Windenergieanlagen sind hohen strukturellen Belastungen und extremen Umwelteinflüssen ausgesetzt. Auf die Vorderkanten der Rotorblätter treffen Regentropfen, Hagel- und Sandkörner. Diese hinterlassen im Laufe der Zeit deutliche Schäden - trotz der aufgebrachten speziellen Lacke und Folien. Deshalb haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein neues Hybridmaterial entwickelt, das die Vorderkante der Rotorblätter vor diesen Umwelteinflüssen besser schützt. Zudem verhindert ein integriertes Heizsystem Eis am Rotorblatt.

Erosion reduziert die Leistung

An den Blattspitzen einer Windenergieanlage beträgt die Umlaufgeschwindigkeit eines 60 Meter langen Blatts über 300 Kilometer pro Stunde. Treffen bei dieser hohen Geschwindigkeit Regentropfen auf die Nasenkante des Rotorblatts, zerplatzen diese und schädigen die Blattoberfläche. Zusätzlich schädigt starke UV-Strahlung das Material der Blattoberfläche. Hat der Materialverlust erst einmal begonnen, breitet sich die Erosion innerhalb von kurzer Zeit aus. Darüber hinaus kann sich im Winter Eis an der Vorderkante bilden. Letztendlich verschlechtern Erosion und Eis die aerodynamischen Eigenschaften des Rotorblatts. Es treten zusätzliche Turbulenzen auf, die Geräuschbelastung steigt und die Leistung der Windenergieanlage nimmt fortlaufend ab. Folglich müssen Rotorblätter in luftiger Höhe repariert oder im schlimmsten Fall sogar ausgetauscht werden.

Neue Vorderkante für Rotorblätter schützt vor Erosion

Spezielle Lacke und Folien sollen die Vorderkante vor Erosionsschäden schützen. Die Lebensdauer dieser Schutzsysteme, beträgt für Offshore-Anlagen durchschnittlich zwei bis vier und für Onshore-Anlagen vier bis sechs Jahre. Diese Werte können abhängig von den jeweiligen Standorten, den Einflüssen der Umgebung und eingesetzten Materialien variieren.

Innerhalb des Forschungsverbunds HyRoS, kurz für „Multifunktionale Hybridlösung zum Schutz von Rotorblättern“ haben die Forscherinnen und Forscher eine multifunktionale Vorderkante entwickelt. Als Basis dient eine Thermoplastfolie. Thermoplasten sind Kunststoffe, wie beispielsweise Zelluloid, die sich innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs reversibel verformen lassen. Der Thermoplast wird mechanisch mit einem Glasfasergelege zu einem Hybridmaterial verarbeitet. Ein Gelege bezeichnet ein nicht gewebtes textiles Gebilde, dessen Fasern endlos und parallel nebeneinander liegen. Dieses weist hohe mechanische Eigenschaften auf. Darüber hinaus haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Heizfolie entwickelt. Diese wird mit einem weiteren Glasfasergelege ebenfalls zu einem Hybridmaterial vernäht. In einem nächsten Verfahren werden beide Hybridmaterialien fest verbunden. Dies geschieht per Vakuuminfusion mit Epoxidharz. Dadurch entsteht letztendlich aus Glasfasergelegen und den neuen Hybridmaterialien das gewünschte multifunktionale faserverstärkte Verbundbauteil. Dieses bildet die eigentliche Schutzschicht der Rotorblatt-Vorderkante.

Erste Tests des neuen Hybridmaterials haben die Projektpartner in einem Regenerosionsprüfstand von Enercon durchgeführt. Damit haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Qualität des thermoplastischen Hybridmaterials erfolgreich geprüft. Aktuell untersuchen sie das Material, um die tatsächliche Nutzungszeit der Vorderkante zu bestimmen.

Erosionsschutz auf der Basis eines Hybridmaterials
© Universität Bremen, BIK

Erosionsschutz auf der Basis eines Hybridmaterials Prinzipieller Aufbau, 1: Erosionsschutz; 2: Heizfolie; 3: Lackschicht; 4: GFK, glasfaserverstärkter Kunststoff

Heizfolie verhindert vereiste Rotorblätter

Die neue Heizfolie soll die Temperatur der Rotorblatt-Vorderkante bestimmen. Dafür ist ein Sensor in der Flügelkante notwendig, der die aktuelle Temperatur misst. Für dieses Verfahren bietet sich ein RFID-System mit integriertem Temperaturfühler an. RFID steht für radio-frequency-identification und bedeutet Funkerkennung. RFID-Systeme können Daten berührungslos lesen und speichern. Diese Methode bietet den Vorteil, dass der Sensor direkt in die Vorderkante integriert werden kann. Die erfassten Messwerte verarbeitet eine Steuereinheit, die über die Heizfolien die Temperatur der Vorderkante regelt.

Erste Versuche mit der neuen Rotorblatt-Vorderkante haben gezeigt, dass die Heizfolien unter realistischen Bedingungen erfolgreich arbeiten. Dafür haben die Projektpartner einen Demonstrator, also eine 3- 4 Meter lange Vorderkante eines Rotorblatts aufgebaut und in einer Klimakammer getestet.

Schützende Flügelkante automatisiert herstellen

Üblicherweise wird bei der Fertigung von Rotorblättern manuell gearbeitet. So legen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedene Materiallagen per Hand in Bauteilformen ein. Das Verfahren ist mit dem neuen Thermoplast-Hybridmaterial nicht möglich, weil das Material über eine hohe Biege- und Schubsteifigkeit verfügt. Diese Eigenschaft ändert sich allerdings bei höheren Materialtemperaturen. Deshalb haben die Projektpartner einen automatischen Applikationsprozess entwickelt, der die besonderen Materialeigenschaften berücksichtigt. Hierfür haben sie einen sogenannten Applikationswagen entwickelt. Dieser appliziert pro Schritt jeweils eine Lage des Thermoplast-Hybridmaterials. Zusätzlich haben sie ein voll-automatisches Applikationssystem untersucht, das gleichzeitig mehrere Materialschichten in die Form einbringt. Beide Methoden konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler innerhalb einer realen Rotorblattfertigung erfolgreich testen.

Das Foto zeigt eine Applikationsvorrichtung. Mit dieser werden die Materialien für die Rotorblattvorderkante in die Form eingelegt.
© Universität Bremen, BIK

Mit dieser Applikationsvorrichtung zur teil-automatisierten Applikation werden die Materialien für die Rotorblattvorderkante in die Form eingelegt.

Wie geht es weiter?

Das neue multifunktionale Hybridmaterial bietet einen innovativen Ansatz zum Schutz von Rotorblättern. Gleiches gilt für das neue Applikationsverfahren. Aufbauend auf den positiven Ergebnissen des Forschungsverbunds plant der Partner SAERTEX das neue Vorderkanten-Schutzsystem für Rotorblätter bis zur Marktreife zu entwickeln.

Darüber hinaus bieten die neuen Hybridmaterialien und die neue Heizfolie auch für den Schienenverkehr oder den Schiffbau interessante Einsatzmöglichkeiten.

 

Letzte Aktualisierung: 26.06.2020

Auf einen Blick

Kurztitel: HyRoS
Förderkennzeichen: 0325937A-G
Themen: Anlagentechnik
Projektkoordination: SAERTEX GmbH & Co. KG
Laufzeit gesamt: Dezember 2015 bis November 2019

Projektsteckbrief als PDF downloaden

Quintessenz

  • Die Vorderkante der Rotorblätter wird aus einem neuen Hybridmaterial hergestellt und schützt das Bauteil vor Schäden durch Erosion.
  • Eine neue Heizfolie verhindert vereiste Rotorblatt-Vorderkanten. Sensoren messen die aktuelle Temperatur und senden die Daten an eine Steuereinheit.
  • Mit einem Demonstrator konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erste erfolgreiche Tests unter realistischen Bedingungen durchführen.
  • Mithilfe eines neuen Applikationsverfahrens werden die neuen Hybridmaterialien in die Bauteilformen eingelegt.

Kontakt

Lars Ischtschuk
SAERTEX GmbH & Co. KG
Brochterbecker Damm 52
48369 Saerbeck

+49(0)2574-902-172

Universität Bremen, Institut für integrierte Produktentwicklung (BIK)

www.bik.uni-bremen.de

 

Institut für Verbundwerkstoffe GmbH (IVW)

www.ivw.uni-kl.de

 

K.L. Kaschier- und Laminier GmbH

www.kaschier.de

 

WRD Wobben Research and Development GmbH

www.enercon.de

 

HERMES Systeme GmbH

www.hermes-systeme.de

Forschungsbericht zum Projekt

Abschlussbericht TIB Hannover

Multifunktionale Hybridlösung zum Schutz von Rotorblättern

Bei EnArgus, dem zentralen Informationssystem zur Energieforschungsförderung, befindet sich unter anderem eine Datenbank mit sämtlichen Energieforschungsprojekten – darunter auch dieses Projekt.